Zu diesem Thema stehen zwei Möglichkeiten zu deiner Verfügung. Du kannst den Text selber lesen (siehe unten) oder du lässt ihn dir von mir im nachfolgenden Video vorlesen. Oder beides. Du hast die Wahl.
nachts im Bett
Ich lag im Kinderzimmer, als ich plötzlich aus dem Schlaf gerissen wurde. Mit einem Ruck setzte ich mich im Bett auf. Ich hatte einen furchtbaren Schrei gehört. Da, noch einmal ein Schrei, der durch die Schlafzimmertür drang! Etwas Grauenvolles musste drüben im Wohnzimmer vor sich gehen, wo meine Eltern vor dem Fernseher sassen. Leise schlüpfte ich aus dem Bett und schlich zur Tür.
Der Fussboden war kalt, das Metall der Türklinge ebenso. Nur der Ton des Fernsehens drang blechern bis zu mir. Ich löste das Ohr von der Tür. Leise öffnete ich die Tür. Die Schreie waren eindeutig aus dem Wohnzimmer gekommen. Ich musste unbedingt dorthin.
ich hatte Angst
Lautlos schlich ich in diese Richtung, liess die Türen zum Flur dennoch nicht aus den Augen. Nichts. Wieder hörte ich, wie meine Mutter einen Schrei ausstieß, diesmal leiser. Endlich sah ich sie. Sie schien in Ordnung zu sein, Papa auch. Aber weshalb hatte Mama geschrien?
Bevor ich das nicht wusste, wollte ich sie nicht auf mich aufmerksam machen. Ich versteckte mich hinter der breiten Armlehne des Sofas, auf dem meine Eltern sassen und gebannt eine Sendung anschauten. Erst jetzt wagte ich es, zum Fernseher hinzublicken.
der Würger
Dort würgte ein dunkler Mann in einer dunklen Ecke eines Zimmers eine Frau zu Tode. Die Frau rang nach Luft, röchelte hilflos und blieb bald einmal schlaff am Boden liegen.
Mir wurde abwechselnd heiß und kalt. Wie magisch wurden meine Augen von der Glotze angezogen. Der Anblick war so furchtbar, dass ich es kaum fassen konnte. Ich schlug die Hand vor den Mund und schickte ein Stoßgebet zum Himmel, dass meine Eltern mich nicht gehört hatten. Der Anblick der toten Frau grub sich tief in mein Bewusstsein.
Eduard Zimmermann
Die Szene wurde ausgeblendet und das Gesicht eines ernsten Mannes mit Ratsherrenecken blickte streng aus der Röhre, als ob ich daran schuld wäre, dass die Frau jetzt tot war. Sein Gesicht und seine Stimme lösten in mir Angst aus.
Ratschläge
Er ermahnte die Zuschauer, was man beachten sollte, um auf keinen Fall Opfer eines Verbrechens zu werden. Was er sagte, empfand ich als Zumutung. Wir Frauen, und als solche fühlte ich mich schon damals als Kind, wir Frauen würden die Männer zu Verbrechen verleiten, wenn wir zu kurz Röcke trügen oder uns schminken würden. Nachts allein unterwegs zu sein, bedeute, dass man sich als Wild für Verbrecher darbiete.
Meine Eltern merkten nicht, dass ich heimlich mitschaute. Doch plötzlich blickte meine Mutter in meine Richtung und beendete mein Versteckspiel. Ich schluckte leer, senkte schuldbewusst den Kopf und verließ schmollend das Wohnzimmer. Warum war ich noch nicht alt genug, diese neue spannende Sendung zu sehen? Sobald die Luft rein war, würde ich wieder ins Wohnzimmer schleichen, um mehr von der Sendung sehen zu können.
ein unvergesslicher Fernsehabend
Dieser Abend blieb mir in Erinnerung. Es war 1967. Eduard Zimmermann lancierte eine der erfolgreichsten Sendungen im deutschen Fernsehen. Mit dem gemütlichen Fernsehabend war es vorbei. Am Freitag, 20. Oktober, wurde im ZDF um 20 Uhr zum ersten Mal «Aktenzeichen XY ungelöst» über den Äther gesendet. Von da an schliefen die Leute schlechter als vorher.
die unheimliche Sendung
Einmal im Monat kam sie. Die unheimliche Sendung. Unfassbare Gräuel sollten von ihr ausgehen. Frauen flüsterten einander zu, dass sie «Aktenzeichen XY … ungelöst» niemals alleine schauen könnten, es sei schlicht unmöglich, sie würden sich danach nie mehr allein aus dem Haus wagen. Eduard Zimmermann sagte in seiner Sendung, er wolle den Bildschirm für die Verbrechensbekämpfung einsetzen, das sei der Sinn seiner neuen Sendung.
wahre Verbrechen – true crime
Er liess wahre, ungelöste Verbrechensfälle von Schauspielerinnen und Schauspielern nachspielen, kein Detail ging dabei vergessen: Bilder von echten Leichen und möglichen Tätern wurden gezeigt. Das TV-Publikum wurde zur Mithilfe aufgefordert und konnte in der Sendung anrufen, für den richtigen Tipp gab es eine Belohnung.
Die meisten von uns durften die Sendung gar nicht schauen, weil wir zu jung waren. Trotzdem kennen wir die Sendung alle.
Eduard Zimmermanns Frauenbild
Bereits nach der ersten Sendung wurde ein Betrüger gefasst. Doch der Betrüger war bloß der Nebenfall. Der Hauptfall war eine Frauenleiche, die von einem rechtschaffenen Dorfbewohner im Wald gefunden wurde. Sie war jung, hübsch und extravagant gekleidet, der Prototyp des Zimmermannschen Opfers: vermutlich selbstbewusst, vermutlich auf dem Weg zu einem Vergnügen. Für Zimmermann gab es die braven Bürger mit ihren Familien, ihnen gegenüber standen die Verbrecher. Sie kamen nie aus den Familien. Gerade im Fall der Sittlichkeitsverbrechen entspricht dies jedoch nicht den kriminalstatistischen Tatsachen. Auch im Fall der ersten Toten von «Aktenzeichen XY» war der Mörder der Verlobte. Er stellte sich zwei Jahre später der Polizei.
55 Jahre
Eduard Zimmermann ging 1997, nach 30 Jahren, in Rente. Bis heute sind über 600 Folgen ausgestrahlt worden. Von 4952 vorgestellten Fällen (davon 467 aus der Schweiz) konnten 1483 gelöst werden. Seine Sendung war weltweit das erste True-Crime-Format, das es gab.
Die Sendung gibt es seit fünfundfünfzig Jahren.